Im Februar 1994 diagnostizierte die Tierärztin bei Lissy, einer ca. 17 Jahre alten Warmblutstute, Krebs. Die Tierärztin riet von einer OP ab, da die Stute schon älter und konditionell ziemlich angegriffen war, eine OP vermutlich nicht den Gewünschten Erfolg bringen würde und zudem sehr kostspielig wäre. Sie riet uns die Stute möglichst bald töten zu lassen, da das Ausmaß der Erkrankung nicht einzuschätzen sei.
Lissy war für viele Kinder ein ganz besonderes Pferd. Durch ihre lange Anwesenheit im Stall haben viele Kinder den ersten Kontakt zum Pferd über sie aufgenommen. Aufgrund ihres liebevollen und geduldigen Charakters, wurde sie oft für kleinere, neue und ängstliche Kinder eingesetzt.
In einzelpädagogischen Maßnahmen hatte sie eine unendlich tragende Funktion für viele innerlich verstörte und verwahrloste Kinder.
Da standen wir nun vor einem großen Problem.
Wir mussten entscheiden, wann und wie wir Lissy töten lassen.
Viele Fragen traten auf:
Was ist das beste für das Pferd?
Wie bringen wir das den Kindern bei?
Wie gehen wir hier in der Einrichtung damit um?
Es gab verschiedene Möglichkeiten:
- Um die Kinder zu schonen und es ihnen leichter zu machen, gab es zum Einen die Überlegung, das Pferd am Wochenende töten zu lassen, und die Kinder am Montag vor vollendete Tatsachen zu stellen. Damit hatte man Erfahrung, denn Lissy war nicht das erste Therapiepferd, das getötet werden musste.
- Die andere Überlegung war, die verbleibenden acht Wochen bis zu den Osterferien zu warten, um das Pferd dann töten zu lassen. Viele der Kinder verbringen die Ferienzeiten bei ihren Familien. Es bestand die Hoffnung, dass die Kinder dadurch genügend zeitlichen und räumlichen Abstand zu den Pferden haben würden und das Verlustempfinden auf diese Weise weniger stark sein würde.
Die letzte Möglichkeit war ganz anders:
Die Idee, den bevorstehenden Tod des Pferdes nicht zu verheimlichen, sondern im Gegenteil, die Kinder damit zu konfrontieren und ihnen somit die Gelegenheit zu bieten, Abschied zu nehmen. Abschied von einem Pferd, mit dem sie viele menschliche Eigenschaften verbinden und dem sie viele vertrauensvolle Gefühle entgegenbringen.
Also ein ganzheitliche Ansatz, denn Sterben gehört zum Leben dazu und hier können die Kinder lernen, mit Verlust und Trauer umzugehen.
Wir kamen überein im therapeutischen Team (alle Therapeuten der Einrichtung) alle Möglichkeiten mit ihren Vor- und Nachteilen durch zusprechen und eine Entscheidung in diesem Gremium zu treffen.
Es wurden die oben beschriebenen Möglichkeiten der Tötung besprochen und mit den gemachten Erfahrungen und Beobachtungen verglichen.
Allen Mitarbeitern waren noch die Reaktionen der Kinder auf den plötzlichen Tod der beiden Therapiepferde “Plüsch“ und “Merkur“ präsent:
• Misstrauische Kinder, die glaubten wir hätten ihr geliebtes Pferd einfach getötet, weil wir es nicht mehr haben wollten, oder hätten es verkauft und würden sie belügen.
• Kinder in Ohnmachtshaltung, die einfach nicht glauben wollten, dass ihr Pferd, welches am Freitag noch gesund im Stall stand, am Montag einfach nicht mehr da sein sollte.
• Kinder die sich betrogen und verraten fühlten und sich von da an weigerten in den Stall zu kommen, weil sie so unvorbereitet Gefühle von Verlassen sein und Trauer verspürten und sich im weiteren davor schützen wollten, diese Gefühle noch einmal zu erleben.
• Kinder die völlig hysterisch oder extrem albern reagierten, weil sie nicht wussten, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen sollten.
Ausgehend von diesen Erfahrungen wurde schnell deutlich, dass die beiden ersten Varianten für die Erwachsenen vermeintlich einfacher wären. Ein Vertrauensbruch, der nicht rückgängig zu machen wäre.
Nach eingehender Betrachtung haben wir uns entschlossen, den schwierigeren Weg zu gehen, und den bevorstehenden Tod des Pferdes nicht zu verheimlichen, sondern den Kindern die Gelegenheit zu geben, sich damit auseinander zu setzten.
In Anbetracht der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung stand, war ein gelungener Abschluss nur zu erreichen, wenn alle Mitarbeiter die Entscheidung mittragen und bei der Durchführung mit helfen würden.
Der Stallmeister musste die Organisation mit dem Schlachter übernehmen. Wir waren uns einig, dass Lissy hier am Stall getötet werden sollte, und es musste geklärt werden, ob Samstag jemand raus kommen könnte um eine Tötung vorzunehmen, so dass wir den Freitag zum Abschied nehmen nutzen konnten.
Es wurden Absprachen getroffen, wer von den Therapeuten wo unterstützende Hilfe leisten könnte. Ein Konzept wurde erstellt, das alle Mitarbeiter auf einen einheitlich verbalen Konsens bringen sollte. Um Verwirrung und Unsicherheit bei den Kindern möglichst zu vermeiden, war es uns wichtig, Fragen inhaltlich gleich zu beantworten.
Am folgenden Vormittag wurde ein Rundgang durch alle Gruppen gemacht, um die Dienst habenden Mitarbeiter zu informieren und auf mögliche Reaktionen der Kinder vorzubereiten. Der einheitlich verbale Konsens wurde mit allen besprochen und der geplante Ablauf mitgeteilt.
Es wurde in diesen Gesprächen deutlich, dass alle Mitarbeiter (bis auf Eine, die selber so betroffen war, dass sie sich überfordert fühlte die Kinder zu begleiten) diesen schwierigen und unsicheren Weg unterstützen und mittragen wollten. Jeder bot sofort Hilfe und Unterstützung an. Es wurde vor Ort noch einmal überlegt, welche Schwierigkeiten in einzelnen Gruppen auftreten könnten und welche Kinder individueller Betreuung bedürften.
Die Mitarbeiter informierten alle Kinder ihrer Gruppen nach dem Mittagessen und übernahmen die Koordination und Betreuung einzelner Kinder. Es wurde abgesprochen, wann welche Gruppe in den Stall kommt und dass immer ein Mitarbeiter die Kinder begleitet. Einige Mitarbeiter blieben von sich aus länger im Dienst um bei der Betreuung und den Gesprächen zu unterstützen.
Uns war wichtig, dass alle Kinder gleiche Informationen bekommen und dass alle Kinder das Angebot Abschied zu vom Pferd zu nehmen individuell umsetzen können. Keiner sollte zu irgend etwas gezwungen werden. Die Mitarbeiter wurden gebeten, sich Zeit zu nehmen für fragende und traurige Kinder und auch solche Kinder ernst zu nehmen, die unerwartete Reaktionen zeigen.
Die Begleitung von Kindern durch Mitarbeiter hielten wir für wichtig, weil diese als Vorbildfunktion dienen konnten, für Kinder die nicht wissen wie sie ihre Trauer zum Ausdruck bringen können.
Da alle Mitarbeiter stark betroffen waren, war dies eine echte Chance, die wir nutzen konnten. Erklärend dazu sollte angemerkt werden, dass allen neuen Mitarbeitern ein Angebot gemacht wird, einen Teil des therapeutischen Reitens in Form von Selbsterfahrung auf dem Pferd zu erleben. Fast alle Mitarbeiter machten diese Selbsterfahrung auf Lissy.
Um 13:30 Uhr sollte der normale Betrieb im Reitstall anlaufen (Freie Reitstunde und Außentherapie). Wir fanden es wichtig diese Stunden nicht ausfallen zu lassen, um der Zeremonie des Abschiednehmens nicht einen zusätzlichen dramatischen Charakter zu geben.
Um 14:00 Uhr sollten die einzelnen Gruppen wie besprochen kommen. Je nach Bedürfnis, bzw Andrang, war geplant mit Lissy auf die Weide nahe des Stalls zu gehen um so eine offenere Atmosphäre zu schaffen. Mit dem Stallteam war abgesprochen, dass jedes Kind auch in die Box eines anderen Pferdes gehen darf, um dort Trost zu finden, wenn es danach fragt.
Als die ersten Kinder kamen, wurde schnell deutlich, dass die Box zu klein war um dem Andrang gerecht zu werden. Die Möglichkeit, nach draußen zu gehen wurde umgesetzt.
Die Kinder machten sich in erster Linie Sorgen um Lissyś Wohlergehen. Es wurde zunächst eine Schubkarre mit Heu geholt und ihr vorgesetzt, dann reichlich Putzzeug, um sie noch einmal ausgiebig zu striegeln.
Jedes Kind fand einen eigenen Weg, um Abschied zu nehmen. Einige putzten sie, andere schmusten mit ihr oder lehnten sich an ihre Schulter und streichelten ihr den Hals. Wieder Andere umarmten sie und weinten sich in ihrer Mähne aus.
Einige wollten sich noch einmal von ihr tragen lassen und setzten oder legten sich auf sie, so wie sie es in der Schmuserunde am Liebsten gemacht hatten. Viele Fragen wurden gestellt, viele Tränen vergossen, viel Trost einander gespendet.
Einige Kinder machten sich Sorgen, ob es dem Pferd nicht zu viel werden würde. Nach gemeinsamer Betrachtung des Mienenspiels hatten sie sogar den Eindruck, Lissy genieße so viel Aufmerksamkeit.
Es gab trotz so vieler Kinder, die gleichzeitig da waren und ein Bedürfnis stillen wollten, nicht ein einziges lautes Wort oder den Ansatz eines Konfliktes. Ich habe noch nie erlebt, dass viele sonst eher schwierige Kinder auf einmal, so friedlich, liebevoll, rücksichtsvoll und verständnisvoll aufeinander eingehen können.
Ein Kind, dass sonst immer Erster sein muss, bietet einem anderen weinenden Kind an, vor ihm auf´s Pferd zu gehen und sagt: “Lass dir so viel Zeit wie du brauchst ich kann noch warten!“
Ein Mädchen, dass erst nicht aufsteigen wollte, es dann später doch versucht hatte, machte einem anderen Mädchen Mut: “Ich wollte erst auch nicht rauf, später bin ich dann doch rauf und es tat so gut!“
Eine andere Situation: Ein Mädchen liegt auf Lissy und umarmt den Hals. Ein Junge aus der gleichen Gruppe kommt und will auch auf Lissy´s Rücken. Das Mädchen sagt zu ihm: “Ich will noch nicht runter, willst du mit rauf?“ Nachdem der Junge sich bei mir vergewissert hatte, dass es der Lissy nicht zu schwer wird, setzte er sich rückwärts hinter das Mädchen und legte sich auf Lissys Po. Beide lagen eine ganze Weile friedlich schweigend und gingen anschließend gemeinsam zurück in die Gruppe.
Bis dahin waren Partnerübungen beim heilpäd. Voltigieren im Gruppenverband kaum möglich.
In vielen folgenden Gesprächen wurde deutlich, wie viel Trost und Kraft die Kinder aus der Möglichkeit des Abschiednehmens schöpfen konnten. Ein Mädchen machte sich Gedanken um ihre Freundin: “Die arme Anja, die ist heute krank und Zuhause, ich ruf sie aber besser nicht an, denn dann ist sie alleine und hat Keinen, der sie tröstet. Ich warte lieber, bis sie wieder in die Schule kommt.“ Ein anderes Kind daraufhin: “Der arme Sebastian, der ist heute auch nicht da, der hat die Lissy doch auch so gern, jetzt kann er sie nicht mehr sehen und nicht mehr streicheln.“
Bei einem Kind kam ein traumatisches Erlebnis mit dem plötzlichen Kindstod des jüngeren Geschwisterkindes ans Licht. Es konnte von der Bezugserzieherin aufgefangen und im Nachhinein sogar mit den Eltern aufgeklärt werden.
Es wurden Erinnerungen von dem Verlust der anderen Therapiepferde wach, sie konnten jetzt aufgearbeitet werden.
Viele Kinder haben sich für dieses Vorgehen bedankt.